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Nominierungen Sachbuch - Essaystik

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Heike Behrend: Menschwerdung eines Affen. Eine Autobiografie der ethnografischen Forschung (Matthes & Seitz Berlin, 1. Oktober 2020, 278 S., gebunden, EUR 25.--)


Ein tiefschürfender und selbstkritischer Beitrag zur Debatte über das Fremde
Heike Behrend studiert Ethnologie in den politisch bewegten Sechzigerjah­ren; ihre erste Feldforschung führt sie Ende der Siebzigerjahre in die keniani­ schen Tugenberge; Mitte der Achtzigerjahre begibt sie sich auf die Spuren der Holy­Spirit­Bewegung im Norden Ugandas. Während der Aids­Epidemie arbeitet sie über die katholische Kirche in Westuganda, und schließlich erforscht sie an der kenianischen Küste die lokalen Praktiken von Straßen­fotografen und Fotostudios. Diese Autobiografie der ethnografischen For­schung erzählt keine heroische Erfolgsgeschichte, sondern berichtet von dem, was in den herkömmlichen Ethnografien meist ausgeschlossen wird – die unheroischen Verstrickungen und die kulturellen Missverständnisse, die Konflikte, Fehlleistungen sowie Situationen des Scheiterns in der Fremde. So lädt dieses Buch zu einem freimütigen Blick auf die Ethnologie als Poetik sozialer Beziehungen ein. In den wenig schmeichelhaften Namen – »Affe«, »Närrin« oder »Kannibale« –, die der Ethnologin in Afrika gegeben wurden, wird sie mit fremder Fremderfahrung konfrontiert und muss sich fragen, welche Wahrheit diese Bezeichnungen zum Ausdruck bringen, welche kolo­niale Geschichte sie erzählen und welche Kritik sie an ihrer Person und Arbeit üben. Mit dem Bericht über vier ethnografische Forschungen in Kenia und Uganda in einem Zeitraum von fast fünfzig Jahren reflektiert Heike Behrend auch die Fachgeschichte der Ethnologie und die Veränderungen des Machtgefüges zwischen den Forschenden und den Erforschten, die sie am eigenen Leib erfährt.

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Dan Diner: Ein anderer Krieg. Das jüdische Palästina und der Zweite Weltkrieg 1935 – 1942 (Deutsche Verlags-Anstalt, 15. März 2021, 352 S., gebunden, EUR 34.--)

Ein vollkommen neuer Blick auf den Zweiten Weltkrieg
Dieses Buch erzählt die Anatomie des Zweiten Weltkrieges aus einer ungewohnten Perspektive: Im Zentrum des Geschehens steht das jüdische Palästina, gelegen am Schnittpunkt der europäisch-kontinentalen und außereuropäisch-kolonialen Wahrnehmung. Die Kernzeit dieser raumgeschichtlich angelegten Erzählung liegt zwischen dem Abessinien-Krieg 1935 und den Schlachten von El Alamein und Stalingrad 1942. Die Verschränkung zweier, für sich jeweils anderer Kriege – dem Zweiten Weltkrieg und dem Kampf um Palästina – konstruiert das eigentliche Drama der Erzählung und durchzieht als roter Faden das Buch. Es entsteht ein dichtes Gewebe von Ereignisfacetten, das im global geschilderten Großereignis des Zweiten Weltkrieges durch eine besondere Sicht bislang wenig beachtete Konturen hervortreten lässt.

 

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Michael Hagner: Foucaults Pendel und wir. Anlässlich einer Installation von Gerhard Richter (Verlag Walther König, 25. März 2021. 396 S., 92 Illustr. EUR 38.--)

Die Idee zu diesem Buch entstand 2018 während der Eröffnung der Installation von Gerhard Richter "Zwei graue Doppelspiegel für ein Pendel" in der Dominikanerkirche in Münster. Als der Physiker Léon Foucault 1851 mit einem Pendel die Erdrotation nachweisen konnte, musste niemand mehr von der Richtigkeit der kopernikanischen Weltbilds überzeugt werden. Dennoch gilt das Experiment als eines der berühmtesten in der Geschichte der Wissenschaften. Wieso eigentlich? Was hat das Pendel noch mit uns zu tun? Michael Hagner geht dieser Frage nach und erschließt, ausgehend von Foucaults aufsehenerregender Inszenierung des Pendels im Pariser Panthéon, die wissenschaftlichen, politischen, religiösen und ästhetischen Kontexte des vielfach wiederholten Versuchs. Dabei zeigt sich, wie die Frage nach dem Zusammenhang von kosmischen Vorgängen und menschlichen Belangen vom 19. Jahrhundert bis heute in immer neuen Konstellationen aufgeworfen wird. Der Glaube an den zivilisatorischen Fortschritt durch die Wissenschaft prägte die moderne Geschichte des Pendels, bis Umberto Eco es in einem postmodernen Welttheater wiederverzauberte. Damit wurde die Bühne frei für die ohnehin latente Vermutung, bei Foucaults Pendel könnte es sich auch um ein Kunstwerk handeln. In einer überraschenden Wende deutet Hagner eine Installation Gerhard Richters von 2018 als Vorschlag, performativ den Betrachter in seine Sicht auf das Pendel einzubeziehen. Mit Konsequenzen: Heute erinnert das Foucaultsche Pendel daran, dass Erde und Kosmos nicht als Verfügungsmasse menschlicher Hybris taugen. Michael Hagner (geboren 1960), Professor für Wissenschaftsforschung an der ETH Zürich. Für seine Arbeit wurde er u.a. mit dem Sigmund Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung sowie der Martin Warnke-Medaille und dem Wissenschaftspreis der Aby-Warburg-Stiftung ausgezeichnt. Neuere Publikationen: Zur Sprache des Buches (2015); Die Lust am Buch (2019).

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 Christoph Möllers: Freiheitsgrade. Elemente einer liberalen politischen Mechanik (Suhrkamp Verlag, 27. September 2020, 343 S., kartoniert, EUR 18.--)

Inhalt

Freiheitsgrade kennt man aus der Mechanik. Der Begriff bezeichnet dort die Zahl der Richtungen, in die ein Körper sich an einem Gelenk bewegen kann. Bei seinem Versuch, den Liberalismus auf die Höhe der Zeit zu bringen, geht Christoph Möllers weder von der politischen Großwetterlage aus noch vom Gegensatz zwischen Individuum und Gemeinschaft. Vielmehr versucht er, Formen einer Ordnung herauszupräparieren, die Bewegungsfreiheit und soziale Varianz ermöglicht. So gerüstet, verspricht er keine Antworten, aber neue Perspektiven auf diverse Phänomene: auf den Begriff der politischen Repräsentation, aber auch die Funktion territorialer Grenzen. Freiheit, so Möllers, ist eine Praxis der Ergebnisoffenheit, die Prozesse ermöglicht, von denen unklar sein muss, wohin sie führen
 
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Uta Ruge: Bauern, Land: Die Geschichte meines Dorfes im Weltzusammenhang (Verlag Antje Kunstmann, 26. August 2020, 478 S., gebunden, EUR 28.--)

Ein Dorf im Moor in den 50er Jahren, ein Bauernhof heute – und wie das Weltgeschehen das Leben der Menschen auf dem Land veränderte. Davon erzählt Uta Ruge am Beispiel ihres Dorfes und ihres Bruders.
Seit ein paar Tagen stehe ich morgens um sechs mit allen auf, um zu sehen, zu hören und zu riechen, wie sich Landwirtschaft heute anfühlt auf dem Hof, auf dem ich aufgewachsen bin. Ich ziehe die Stallklamotten an und gehe nach draußen. Mir fällt auf, dass ich den Blick hier nicht heben muss, um den Himmel zu sehen. Ob
es regnet oder bald regnen wird, wie der Wind geht, ist sofort gewusst, in Auge, Ohr und Nase eingeströmt.
Uta Ruge verwebt in Bauern, Land. Die Geschichte meines Dorfes im Weltzusammenhang die Erinnerung an das Leben auf dem Lande in den 50er Jahren mit der genauen Beobachtung der Veränderungen in der Landwirtschaft heute, mit der Chronik des Dorfes, den welthistorischen Zusammenhängen und der Kulturgeschichte, die das Leben der Bauern geprägt haben und prägen. Sie erzählt von harter Arbeit und Abhängigkeit, von der Besiedelung des Moors, von Entwässerung und den Zumutungen der Obrigkeit und der Bürokratie, von Armut und Auswanderung. Aber auch davon, wie man sich gegenseitig unterstützt und hilft und zusammen feiert, von dem Eifer der kleinen Kinder, die den Eltern zur Hand gehen und lernen, dass gegen Arbeit nichts hilft, außer sie zu tun.

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