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2012

NOMINIERUNGEN 2012 BILDERBUCH

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Einer mehr

Yvonne Hergane (Text) ; Christiane Pieper (Illustration)
Peter Hammer Verlag € 12,90 24 Seiten. Ab 2

Jurybegründung
Der Betrachter begleitet kleine Jungen durch einen Tag in der Kita. Da geht es turbulent und abwechslungsreich zu: Man zankt und vergnügt sich im Planschbecken, weint, als es luft- und wasserleer zurückbleibt, spielt Nachlaufen, baut Berge und Meer im Sandkasten, macht Streiche, lacht, isst, trinkt und schläft.
Die kleine Geschichte startet mit einem Jungen und auf jeder Seite kommt ein weiterer dazu. Am Ende sind es dann ganz kurz einmal zehn, bevor sie durch einen Streich des einen wieder auseinanderstieben. Dieses Erzählprinzip verstehen bereits ganz junge Kinder und fallen alsbald von selbst mit dem Ruf „Einer mehr!“ beim Vorlesen an passender Stelle ein. Neben diesem Refrain bietet auch die je eigene Farbigkeit der Doppelseiten eine gute Orientierung für die Kinder.
Die comic-hafte Darstellung der kleinen Kerle ist trotz kargen Strichs bewunderungswürdig ausdrucksstark in Mimik und Körpersprache und macht sie zu Sympathieträgern mit viel Identifikationspotenzial. Das handliche Pappbilderbuch im Querformat begeistert schon die Kleinsten mit seinen schwungvollen Reimen.

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999 Froschgeschwister ziehen um
Ken Kimura (Text); Yasunari Murakami (Illustration)
Aus dem Japanischen von Hana Christen
NordSüd Verlag, € 13,95 48 Seiten
Ab 3
 
Jurybegründung
Als sie noch Kaulquappen waren, reichte der Platz für alle. Aber nun ist es mit 999 Froschkindern viel zu eng geworden im Teich. Daher wollen die Eltern Frosch mit ihrem quirligen Haufen umziehen. Das bedeutet viel Stress für Mama und Papa. Schon bald beginnen die Kleinen zu quengeln, wie man es eben von Kindern auf Reisen kennt: Hunger, Durst, Müdigkeit. Außerdem lauern unterwegs zahlreiche Gefahren – die Schlange, die kleine Frösche „mit einem Biss“ verschlingen kann, oder der hungrige Falke. Der aber hat die Rechnung ohne die beherzte Froschfamilie gemacht: Unfreiwillig wird er zum Umzugshelfer und so landen schließlich alle wohlbehalten in einem neuen Teich.
Die Bilder von Yasunari Murakami – eine Mischtechnik aus Aquarell-, Wachsmal- und Buntstiften – gewähren dem Leser dank der Weißflächen viel Freiraum. Geschickt ausgewählte Perspektiven und originelle Bilddetails fordern zum genauen Schauen auf. Zumeist in Hauptsätzen erzählt und mit viel wörtlicher Rede lässt sich der Text prima vorlesen. Eine frische Umzugsgeschichte, die den Betrachter durch die lichte Bildgestaltung anlockt.

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Der Cowboy
Hildegard Müller (Text, Illustration)
Carlsen Verlag, € 12,90 32 Seiten
Ab 4
 
Jurybegründung
Anna ist mit ihrem rollenden Spielzeug-Hund Toto unterwegs zum Meer. Am Strand sitzt lässig ein Junge mit einem viel zu großen Cowboyhut im Liegestuhl – nichts rührt sich, nur ein loses Holzteil am Liegestuhl schaukelt im Wind. Seinen Hut hat der „Cowboy“ tief ins Gesicht gezogen, ein langes Lasso hängt über seiner Schulter. Anna läuft mit erhobenem Kopf vorbei – völlig unbeeindruckt von dem Jungen mit dem „ganz blöden Cowboyhut“. Ihr Toto soll schwimmen lernen, doch bald schon trägt eine hohe Welle ihn weit hinaus aufs Meer. Erwachsene Strandbesucher kommen angelaufen, aber keiner handelt. Da kommt – von ganz hinten – die knappe Frage: „Gibt`s ein Problem?“ Der Cowboy tritt auf. Und löst das Problem. Jetzt findet Anna ihn doch ganz sympathisch und wir sehen die beiden im letzten Bild – sie mit Lasso, er mit Toto.
Hildegard Müllers kräftige Striche wirken wie Kreidezeichnungen. Ihre Bildkompositionen fokussieren das Geschehen unmittelbar, man sieht nur, was wirklich wichtig ist, nichts ist überflüssig. Auch der Text ist auf das Wesentlichste begrenzt. Ein Bilderbuch, erzählt in Filmsequenzen, puristisch in Form und Farbe, mit viel Gefühl und Happy End.

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Mia schläft woanders
Pija Lindenbaum (Text, Illustration)
Aus dem Schwedischen von Kerstin Behnken
Friedrich Oetinger Verlag, € 12,95, 40 Seiten
Ab 5

Jurybegründung
Mia ist aufgeregt: Sie besucht ihre Freundin Cerisia, um dort zu übernachten. Doch bald schon empfindet sie Fremdheit und Befremden: Das Abendessen schmeckt irgendwie „komisch“ und sie ekelt sich vor Cerisias Hund. Überhaupt setzt die Freundin ihr Hausrecht allzu forsch durch. Kurz: Mia fühlt sich gehörig unwohl und die Freundschaft zwischen den beiden eigenwilligen Mädchen steht auf dem Prüfstand.
Die opulente bildliche Umsetzung erinnert an eine Opernbühne – vor allem durch die Darstellung der Räume mit ihren Verzerrungen und dem genauen Blick für Proportionen. Großartig ist auch der Einsatz kräftiger Farben vom warmen Gelb der Abendessenszene über das tiefe Purpur für die Traumszenen und die Schwärze der Nachtszenen. Zahlreiche skurrile Details machen das Bilderbuch zu einem großen Schauspaß. Eine ganz alltägliche Kindererfahrung wird in Mia schläft woanders gegen den Strich gebürstet und Mias Erleben in beeindruckende Bilder und einen klugen Text gefasst.

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Wenn ich groß bin, werde ich Seehund
Nikolaus Heidelbach (Text, Illustration)
Beltz & Gelberg, € 14,95, 32 Seiten
Ab 6

Jurybegründung
Ausgehend von irischen und schottischen Mythen um Frauen, die eigentlich Seehunde sind, erzählt Heidelbach die Geschichte eines Jungen, der mit Mutter und Vater, einem Fischer, an einer Meeresküste lebt. Die Mutter wird die Familie verlassen.
Der ruhige Text lässt mit seinen kunstvoll knappen Sätzen dem Leser einen großen Spielraum für eigene Vorstellungen. Was Heidelbach mit Wasserfarben auf Papier, mit Gouache und Buntstift zaubert, sind nie zuvor gesehene Bildwelten voller Magie. Die Meereswelt schwimmt dem Betrachter förmlich entgegen und beim zweiten Blick erkennt er, dass die Seewesen beispielsweise menschliche Gesichter haben oder der Wal auf seinem Rücken einen ganzen Königspalast trägt. Mit einer ungeheuren Lebendigkeit in der Figurendarstellung und in den intensiven Landschaftsbildern entsteht eine Atmosphäre, in der ein Geheimnis ein Geheimnis bleiben darf – bis der Leser es selbst entschlüsselt.Nikolaus Heidelbach zeigt in diesem rundum besonderen Bilderbuch noch einmal neue und andere Facetten seines künstlerischen Schaffens und hat ein Kleinod der Erzähl- und Bildkunst für Kinder vorgelegt.

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Blumkas Tagebuch
Vom Leben in Janusz Korczaks Waisenhaus
Iwona Chmielewska (Text, Illustration)
Aus dem Polnischen von Adam Jaromir
Gimpel Verlag, € 29,90, 64 Seiten
Ab 9

Jurybegründung
Schon die ersten Seite macht neugierig: Eine Gruppe von Kindern, sichtlich nicht aus unserer Zeit, zeigt sich dem Fotografen. Die Tagebuchschreiberin Blumka stellt zwölf Kinder aus dem Waisenhaus des polnischen Pädagogen Janusz Korczak vor – sich selbst zuletzt. Jedes Kind wird in seiner gegenwärtigen Individualität dargestellt, denn Details der traurigen Biografien werden nur angedeutet und dies eher im Bild als durch den Text. Der zweite Teil des Buches ist „ihm“ gewidmet: „Und das ist unser Doktor“, sagt Blumka auf der Doppelseite, die den Leiter des Heims beim Wäscheaufhängen zeigt – eine gekonnt verknappte Charakterisierung der pädagogischen Arbeit Korczaks. Blumka schildert dessen Ansichten darüber, wie Menschen miteinander umgehen sollten, und jede Begebenheit ist eine Miniatur von Prinzipien einer humanistischen Pädagogik.
Für die Collagetechnik wird leitmotivisch vergilbtes, liniertes Schreibpapier verwendet, wie es aus Blumkas Tagebuch stammen könnte. Und zwar immer dann, wenn es um Wesentliches geht. In den knappen Texten schwingen unausgesprochene Gedanken mit, die sich mit Details der Illustration zu komplexen Aussagen verbinden. Blumkas Tagebuch ist ein künstlerisch beeindruckendes und emotional berührendes Bilderbuchkunstwerk, das sein Thema für Kinder nachvollziehbar umsetzt – und das auf eine tiefgründige Weise.

 NOMINIERUNGEN 2012 KINDERBUCH

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s. auch ausführliche  Rezension Herbst 11

Mein glückliches Leben
Rose Lagercrantz (Text)
Eva Eriksson (Illustration)
Aus dem Schwedischen von Angelika Kutsch
Moritz Verlag, € 11,95, 144 Seiten
Ab 6

Jurybegründung
Die sechsjährige Dunne bilanziert ihr Leben nach Glücksmomenten – die ersten eigenen Schwimmzüge, der neue Schulranzen, ein geschenkter Frosch. Das Buch für Leseanfänger erzählt aber auch von der Angst vor der Schule, von Einsamkeit, Unsicherheit oder der Trauer über den Wegzug der besten Freundin. Dieser große Kummer zieht aber wiederum ein großes Glücksgefühl nach sich, wenn Ella Frida ihr schreibt: „Ich kann ohne Dich nicht leben.“ Denn so wird für Dunne der Schmerz der Trennung überwindbar.
In der Balance der Licht- und Schattenseiten unseres Seins gelingt der Autorin eine lebensbejahende Geschichte, ernsthaft und zutiefst berührend. Der von Angelika Kutsch exzellent übersetzte Text verbindet sich mit atmosphärisch akkurat abgestimmten Illustrationen. Die gelungenen Schwarz-Weiß-Zeichnungen von Eva Eriksson zeigen auf treffende Art Auszüge der Handlung und machen die An- und Abwesenheit von Glück greifbar. Sie vermitteln tiefe Lebensweisheit auf einfachste Art. Genau so sollte ein Erstlesebuch sein: schön gebunden, nicht zu dünn, nicht zu dick, ein fröhliches Cover und innen so luftig und leicht, dass sich jeder Leseanfänger eingeladen fühlt.

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Frerk, du Zwerg!
Finn-Ole Heinrich (Text)
Rán Flygenring (Illustration)
Bloomsbury Kinderbücher & Jugendbücher, € 16,00, 96 Seiten
Ab 7

Jurybegründung
Ein wahrhaft „flumpes“ Buch ist dem Künstlerteam hier gelungen. Diese anarchische Phantasiegeschichte ist ein Kinderbuch, wie es kinderbuchhafter nicht sein könnte. Frerk ist eine Außenseiterfigur: Bügelfalten und spießiger Hemd-Pullover-Schick machen ihn zur Zielscheibe des Spottes. Auch zu Hause hat er es nicht leicht: Seine neurotische Mutter erlaubt keinen Fernseher, keinen Hund und überhaupt nichts, was Spaß macht. Und der Vater? Schweigsam. Einen Hund, sein Traum, wird er von seinen Eltern niemals bekommen!
Gut, dass er wenigstens dieses merkwürdige Ei findet. Denn was da herausschlüpft, ist pure Subversion und Insubordination. Die skurrilen Zwerge aus dem Ei helfen Frerk, seine innere Stärke und Gelassenheit auch nach Außen hin zu entfalten. Frecher, fröhlicher und selbstbewusster geht Frerk aus der Begegnung mit den ungestümen Miniwesen hervor.
Der sprachgewandte, fabulierlustige und semantisch kreative Text Heinrichs ist mit frech-versponnenen Krakelbildern Flygenrings versehen. Frerk, du Zwerg! ist Quatsch in seinem allerbesten und allerfeinsten Sinne und ein Plädoyer für Anarchie, Mut und Selbstbewusstsein – und ein großer Vorlesespaß dazu.

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s. auch ausführliche  Rezension Frhj.11

Matti und Sami und die drei größten Fehler des Universums
Salah Naoura (Text)
Beltz & Gelberg, € 12,95, 144 Seiten
Ab 8

Jurybegründung
Wer dreimal lügt, dem glaubt man nicht. Und wenn man mit der Unwahrheit erst einmal anfängt, sind drei Lügen so gut wie nichts, denn es zieht ja jede Lüge immer mindestens eine weitere nach sich. Und schon ist die kapitale Katastrophe da.
„Du hast unser Leben zerstört!“, ist einer der ersten Sätze des Kinderromans. Der Ich-Erzähler Matti muss sich diese Anschuldigung seiner Mutter gefallen lassen. Sie hat ja nicht ganz Unrecht: Wegen Mattis Flunkern und Tricksen hat die Familie Arbeit und Wohnung in Deutschland aufgegeben, um in Finnland in das angeblich gewonnene Haus zu ziehen. Aber wann hätte Matti die Wahrheit aufdecken sollen? Als der Vater die Möbel zerlegt? Als Abschiede gefeiert werden? Jeder Moment schien Matti unbrauchbar.
Salah Naoura schenkt dem Leser einen Reigen von überzeugenden Familienszenen mit schrulligen, liebevoll gezeichneten Figuren. Mit Verve nutzt er Missverständnisse für große Situationskomik und schreibt dazu witzige Dialoge im kindlichen Ton und doch voller Lakonie. Und als Mattis Vater und dessen Bruder in Finnland aufeinander treffen, kann sogar Matti noch dazulernen, was Prahlerei, Flunkerei und Angeberei betrifft. Naoura überzeugt als Erzähler dieser turbulenten Familien-Abenteuergeschichte mit erfrischend skurrilen Ideen. Ein idealer Lese- und Vorlesespaß.

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Mina
David Almond (Text)
Aus dem Englischen von Alexandra Ernst
Ravensburger Buchverlag, € 14,95 (D), 256 Seiten
Ab 10

Jurybegründung
David Almond legt mit diesem Roman die Charakterstudie einer ungewöhnlichen Protagonistin vor: Mina ist eine Rebellin, ein Mädchen mit eigener Meinung und Haltung. Sie ist kindlich und frühreif zugleich, übermäßig sensibel und in hohem Maß denk- und sprachbegabt. Ein Kind, das aus dem Rahmen des Üblichen fällt, exzentrisch und in den gewohnten Kategorien nicht zu fassen ist. Die Lehrer kommen mit ihrer Eigenwilligkeit nicht zurecht, so dass die Mutter Mina schließlich zu Hause unterrichtet.
Die Ich-Erzählung mit ihrer konsequenten Innensicht ist eine Liebeserklärung an die Phantasie, an die Neugier und an die Schätze des Wissens. Dabei zeigt der Autor auch die Kehrseiten von Minas Exzentrik, wie beispielsweise den Kummer des Außenseiterdaseins und die zeitweilige Einsamkeit.
Kunterbunte Stilmischungen, gewandt übersetzt von Alexandra Ernst, das abwechslungsreiche nicht-lineare Erzählen und ein breiter Fächer von Textsorten wie Erzählerbericht, Gedicht, Erzählung, Wortspiel oder Kurzgeschichte bilden ein Panorama aus Gegenwärtigem und Vergangenem, in dem eine kindliche Schreiberin querfeldein denken darf. Der Roman Mina ist das Mosaik einer einzigartigen, weit über ihr reales Alter hinaus gereiften Persönlichkeit, das Mut macht, ein unverwechselbares Individuum zu sein.

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s. auch ausführliche Rezension Herbst 11

Sieben Minuten nach Mitternacht
Patrick Ness (Text)
Jim Kay (Illustration)
Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell
cbj in der Verlagsgruppe Random House, € 16,99 (D), 216 Seiten
Ab 11

Jurybegründung
Conors Mutter, mit der er alleine lebt, ist schwerkrank. Die Behandlungen gegen ihre Krebserkrankung schlagen weniger gut an als erhofft, so dass die ungeliebte Großmutter das Regiment im Hause übernimmt. Aber nicht nur sie greift entschieden in das Leben des Jungen ein, sondern auch ein mächtiges Monster, das sich aus der Eibe auf dem nahe gelegenen Friedhof zu entwickeln scheint, aber in Wahrheit in Connor selbst steckt.
Verlässlich um sieben Minuten nach Mitternacht taucht es auf – später auch einmal in der Schule, um Connor in einer Mobbing-Situation beizustehen – und jedes Mal lernt Connor eine Lektion mehr über das Loslassen eines geliebten Menschen.
Patrick Ness erzählt in der Verwobenheit von Wirklichkeit und Phantasie die Geschichte eines Trauerprozesses in all seinen Facetten von Kummer, Verzweiflung, Wut, dem Wunsch, dass es doch endlich so weit wäre, und von Scham darüber, dies zu denken. Bettina Abarbanell hat die Geschichte in einem würdigen Erzählton übersetzt. Die aus alten Mythen und Sagen entliehene Figur des Monsters ist eine überzeugende Metapher für das Unfassbare des Todes, für Endlichkeit, für die alte Frage nach dem Guten und nach dem Bösen. Sieben Minuten nach Mitternacht ist ein poetischer und kraftvoller Roman, der dem kindlichen Leser eine wichtige Geschichte über das Leben erzählt – und über dessen Ende.

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Martina Wildner (Text)
Das schaurige Haus
Beltz & Gelberg, € 12,95, 208 Seiten
Ab 11

Jurybegründung
Martina Wildner erzählt eine deutsche Gruselgeschichte, vielschichtig und unvorhersehbar: Hendrik ist mit seiner Familie aus Sachsen in ein Allgäuer Dorf gezogen. Der Kulturschock ist vorprogrammiert; die Dorfbewohner nehmen die Zugereisten nicht gerade freudig auf. Hendriks kleiner Bruder verarbeitet das Erlebte in seinen Albträumen, während Hendrik versucht, sich mit der neuen Umgebung, seinen Mitschülern und mit den Marotten der Landbevölkerung zu arrangieren.
Die Autorin bleibt stets stilsicher in der Perspektive des geplagten Hendrik und würzt ihre Erzählung mit genretypischen Motiven wie Geheimtüren, Giftmorden, einer rätselhaften alten Frau, modrigem Interieur oder der Fama von häufig wechselnden Bewohnern eines Hauses, auf dem ein Fluch liegt.
Wildner zeichnet das Dorfleben im Allgäu mit der gebotenen Drastik ohne aber die Region und ihre Bewohner je vorzuführen und belässt den raffinierten Plot in der Schwebe zwischen Aberwitz und Wahrscheinlichkeit. So erzeugt sie mit scheinbarer Leichtigkeit eine unheimliche Atmosphäre, die den Leser fesselt. In diesem Roman verbinden sich spannende Dramaturgie und authentische Szenen und Figurendarstellungen zu einem wunderbaren Schauerkrimi für ältere Kinder.

NOMINIERUNGEN 2012 JUGENDBUCH

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s. auch ausführliche Rezension Herbst 11

Die Zeit der Wunder
Anne-Laure Bondoux (Text)
Aus dem Französischen von Maja von Vogel
Carlsen Verlag, € 12,90, 192 Seiten
Ab 13

Jurybegründung
Koumaïl ist Franzose, so hat Gloria es ihm zumindest erzählt, und deshalb hofft der Zwölfjährige auf Asyl in Frankreich. Mit ihm hat die Autorin einen hinreichend naiven Helden erschaffen, der von den politischen und emotionalen Leiden von Flüchtlingen erzählt. Spannungssteigernd wirken die Rahmenhandlung und die Offensichtlichkeit der Lügengeschichte der Hauptfigur, die vorgibt, „nichts als die reine Wahrheit" zu sagen.
Das Motiv des „Wunders“ durchzieht den Roman in der Person Koumaïls selbst, in seinem Erlebten und in der Wiederbegegnung mit Gloria. Sie erweist sich spät, aber nicht zu spät, als seine Mutter. Koumaïls angeblich französische Herkunft entpuppt sich dagegen als ihre Erfindung. Diese Lüge sollte ihrem Sohn das Leben retten.
Koumaïls Alter erlaubt eine naive Darstellung des Grauens aus dessen Sicht. So entstehen Leerstellen in den Momenten, wo der Junge nicht alles versteht, was um ihn herum geschieht. Erzählerisch stark, mit Spannung und Gefühl virtuos spielend zeigt Anne-Laure Bondoux ihren Lesern eine ihnen unbekannte Welt in aller Deutlichkeit, ohne in effekthaschende Drastik zu verfallen. Dies spiegelt Maja von Vogel in ihrer sensiblen Übersetzung wider. Mit Die Zeit der Wunder hat die Autorin ein wichtiges Thema für eine jüngere Leserschaft mit großer Liebe zum Fabulieren aufbereitet.

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s. auch ausführliche Rezension Herbst 11

Vango
Zwischen Himmel und Erde
Timothée de Fombelle (Text)
Aus dem Französischen von Tobias Scheffel und Sabine Grebing
Gerstenberg Verlag, € 16,95, 400 Seiten
Ab 13

Jurybegründung
Bereits die Eingangsszene zieht den Leser in seinen Bann: Paris im Jahr 1934, Vango steht kurz davor, seine Weihe als Priester zu empfangen. Dies ist der Anfang einer Flucht und einer Suche für Vango. Es ist der Ausgangspunkt einer mitreißenden Geschichte aus Motiven und Erzählformen des historischen Romans, der Fantasy und der Abenteuerliteratur.
In kunstvoll miteinander verwobenen Erzählsträngen mit Rückblicken auf das Leben der Protagonisten und mit der Zeichnung von schillernden und kuriosen Figuren wird ebenso Spannung erzeugt wie durch Leerstellen, Zeitsprünge und Ortswechsel.
Die fiktive Figur des Vango wird in die historische Realität der 1930er Jahre eingebettet. Die Fahrten des Luftschiffs Graf Zeppelin und dessen Kapitän Hugo Eckener beispielsweise sind historisch verbürgt. Solche Fakten verarbeitet Timothée de Fombelle ebenso wie Computerspiel- und Filmelemente. In einer für die Gattung des Abenteuerromans typischen „Bricolage“ aus neuen und aus bekannten Versatzstücken verleiht de Fombelle seiner Geschichte einen grandiosen Schwung. Vango bietet historische Spannung zum Wegschmökern in einer sprachmächtigen und äußerst gekonnten Übersetzung.

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s. auch ausführliche Rezension Herbst 11

iBoy
Kevin Brooks (Text)
Aus dem Englischen von Uwe-Michael Gutzschhahn
dtv, € 13,90, 300 Seiten
Ab 14

Jurybegründung
iBoy ist ein literarisches Gedankenspiel: Was, wenn man kein Smartphone, kein Laptop und kein Bluetooth benötigt, um sich überall einhacken zu können? Was würde man mit diesen Möglichkeiten erreichen wollen? Sich in fremde Konten einloggen und am Geld anderer bedienen? Den Klassenkameraden beim Surfen im Netz beobachten? Sich mit Fake-SMS an einem Feind rächen? Oder an den Gedanken seines Mathe-Lehrers teilhaben?
Tom ist durch einen Unfall zu einer Art Cyborg geworden: Ein iPhone zertrümmerte seine Schädeldecke und Teile der digitalen Technik verschmolzen mit seinem Gehirn. Auf die Frage nach den darin liegenden Möglichkeiten und deren Legitimität gibt der Autor keine Antworten. Vielmehr stellt er seine Leser vor wichtige philosophische Fragen und überlässt es ihnen, darüber nachzudenken. Dabei vermag Brooks es, auf wieder einmal einzigartige Weise, sich in die von ihm erfundenen Charaktere hineinzuversetzen und ihre Gedanken und Gefühle genau auszuloten. Mit iBoy hat er das bekannte Motiv des Superman auf intelligente und moralisch anspruchsvolle Weise fortgeschrieben, um zu zeigen, dass es kein richtiges Leben im falschen geben kann. Uwe-Michael Gutzschhahn hat den spannenden Roman wie immer beeindruckend übersetzt.

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Und der Himmel rot
Gabi Kreslehner (Text)
Beltz & Gelberg, € 12,95, 144 Seiten
Ab 15


Jurybegründung

Wer möchte schon den Namen „Darm“ tragen? Oliver, die Hauptfigur des Romans, hält seinen Namen für ein Omen, für das eines verkorksten Lebens. Der Mensch selbst ist ebenso sperrig wie sein Name und er hält seine Mitmenschen meist auf Distanz: Kurt, bei dem der elternlose Jugendliche lebt, seinen Lehrer, der sich in immer neuen Wortspielen zu den unangenehmen Assoziationen von Olivers Nachnamen gefällt. Nur Jana, in die Darm verliebt ist, und sein Freund „Muskat“ können vorsichtige Nähe zu ihm aufbauen.
In der sprachlichen Tradition österreichischer Erwachsenenliteratur, deftig und wortgewandt, erzählt Kreslehner nicht nur die besondere Liebesgeschichte zwischen Jana und Darm, sondern vor allem von den Verwicklungen und Schicksalen der eigenwilligen Protagonisten. Seine wirklich krude Familiengeschichte lässt Darm einerseits in die Provokation flüchten und andererseits in den Rückzug von den ihn umgebenden Menschen. Die Autorin liefert eine anspruchsvolle und sperrige Lektüre in einem gekonnten personalen Erzählstil, den man im Jugendbuch in dieser genau kalkulierten Form nur selten findet. Nach und nach entblättert Gabi Kreslehner förmlich die Figuren, die alle in irgendeiner Form vom Leben gezeichnet sind, und führt den Leser in einen packenden Showdown mit überraschenden Wahrheiten.

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Es war einmal Indianerland
Nils Mohl (Text)
rotfuchs im Rowohlt Verlag, € 12,99 (D), 352 Seiten
Ab 16

Jurybegründung

Dieser Roman führt in die Tristesse der Vorstädte. Ein Hausbewohner hat seine Frau erwürgt. Später wird sich herausstellen, dass es der Vater des Ich-Erzählers war. Zur Inszenierung des Lebens in einem Hamburger Stadtteil, der von jeglicher Gentrifizierung noch unberührt ist, gehören der Freund, mit dem der Ich-Erzähler im Fitness-Studio Eisen stemmt, seine Traumfrau Jackie, die unerreichbar scheint, und Edda, die vielleicht doch die Richtigere für ihn ist. Sie ist es auch, die die Kalamitäten der Adoleszenz auf den Punkt bringt: „Du bist 17, es ist dein Recht, dich von der Welt nicht verstanden zu fühlen.“
Mohls in raffinierten Zeitsprüngen konstruierte Erzählung lebt unter anderem von dem konzisen Einsatz filmischer Gestaltungsmittel. Schnelle Schnitte, Vor- und Rückblenden – typografisch mit den Zeichen für die Vor- und Rückspultasten von DVD-Playern markiert –katapultieren den Leser immer wieder in einen anderen Kontext.
Es war einmal Indianerland ist kunstvoll gebaut, mit seinen zahlreichen, kreativen Neologismen sprachlich innovativ und überzeugend. Es bietet eine neue, aufregende Variante aus Bildungsroman und Liebesgeschichte. Nils Mohl gelingt es, anspruchsvolles literarisches Erzählen thematisch dicht bei seinen jugendlichen Lesern zu realisieren – und das mit viel Herz und Ohr für seine Adressaten.

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Als gäbe es einen Himmel
Els Beerten (Text)
Aus dem Niederländischen von Mirjam Pressler
FJB im S. Fischer Verlag, € 19,95, 624 Seiten
Ab 16


Jurybegründung
Flandern zur Zeit der Besetzung durch die Deutschen: Zentrum der Geschichte ist die Familie der Geschwister Remi, Jef und Renée sowie deren Beziehung zu Ward, der mit Renée ein Paar bildet, mit Jef befreundet ist und den sich Remi, deutlich jünger als seine jugendlichen Geschwister, sehnlich zum Freund wünscht. Die Beziehungen aller zerbrechen daran, dass Ward sich von der Propaganda der Kirche leiten lässt und sich den Nationalsozialisten im Kampf gegen Russland anschließt.
Die Autorin hat die komplexen Ereignisse, Fragen, Schicksale und Gefühle dieser Zeit in eine multiperspektivische Erzählung gefasst, um mit jeder Figur und deren Erzähltext eine Facette des Lebens im Krieg zu zeichnen. Dazu verleiht sie jedem der vier Protagonisten eine eigene Stimme. Diese Krisenzeit wirft Fragen auf, wie die nach dem richtigen Verhalten in einem totalitären System oder danach, wie man mit Schuld zurechtkommen kann.
Els Beerten liefert eine anspruchsvolle Beschreibung der Orientierungslosigkeit von Jugendlichen in einer schwierigen Zeit und vermittelt dem Leser auf eindrucksvolle Weise deren Wünsche, Träume, Sehnsüchte, Ängste und Befürchtungen. Mirjam Pressler hat diesen Roman auf überzeugende Weise übersetzt.

 NOMINIERUNGEN 2012 SACHBUCH
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Filmwerkstatt
So drehst du deinen eigenen Film mit Handy oder Digitalkamera
Tim Grabha, Suridh Hassan, Dave Reeve, Clare Richards (Text)
Garry Parsons (Illustration)
Aus dem Englischen von Manuela Knetsch
Dorling Kindersley, € 16,95
Ab 7

Jurybegründung
„Kamera läuft!” – und zwar praktisch sofort, wenn man die verheißungsvolle Schachtel geöffnet hat. Die Filmwerkstatt ist ein niederschwelliges Mitmachbuch mit hohem Aufforderungscharakter, bei dem die Kinder selbst aktiv werden können. Sie liefert das nötige Material und die passenden Anweisungen, um ohne großen Aufwand erste kleine Filme mit respektablen Ergebnissen zu drehen, wie beispielsweise einen Stop-Motion-Film, der sich stolz im Wohnzimmer-Heimkino vorführen lässt. Kernstück ist das Handbuch Regie, das nach einer pragmatisch einfach gehaltenen Einführung mit Informationen über Vorbereitung, Aufzeichnung, Ton, Licht oder Nachbearbeitung zur Produktion von Spielfilmen, Dokumentarfilmen und Animationsfilmen einlädt. Dabei lernen die Leser zentrale Begriffe der Filmproduktion und der Filmanalyse kennen, die jeweils bildlich und verbal veranschaulicht werden. Neben dem Handbuch gibt es noch ein Geräuschearchiv, Material für ein Animationsstudio oder Requisiten. In Text und Bild wirdein komplexes Medium verständlich dargestellt, das zum eigenen Tun animiert und ohne erwachsene Anleitung auskommt.

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Erforsche deine Welt
Mit 100 Forscherfragen durchs ganze Jahr
Anke M. Leitzgen (Text)
Lisa Rienermann (Illustration)
Beltz & Gelberg, € 16,95, 160 Seiten
Ab 8

Jurybegründung
Dieses schön und aufwändig gestaltete Experimentierbuch für Kinder hebt sich nicht nur in seinem ästhetisch ansprechenden Layout von anderen Büchern des Genres ab: Erstens findet der Leser neben dem bekannten Repertoire von Experimenten viele mit ausgefallenen und neuen Themen. Und zweitens wird das Forschen selbst vorgeführt. Es ist die Haltung des Suchens, des Ergründenwollens – kurz: einer grundlegenden Neugier, die auch den zahlreichen Forschungsaufträgen unmittelbar eingeschrieben ist. Jede Erforschung geht von einer bestimmten Beobachtung aus, die in Bild und Wort dargestellt ist. Dann werden die notwendigen Materialien aufgeführt und jeweils kommentiert, welche Forschertätigkeit im Vordergrund steht – sei es das Beobachten, das Vergleichen, das Sammeln, Sortieren oder Abbilden. Das Buch liefert auf knapp 160 Seiten ein verblüffend großes Spektrum an Forschungsgebieten und Einblicken in die Physik, Chemie und Biologie, wie es oft nicht einmal Fachbüchern gelingt. Es zeigt originelle Perspektiven auf alltägliche und selbstverständliche Abläufe, die der Gleichgültigkeit ihnen gegenüber nachhaltig schaden: „Losgeforscht!“

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Was, wenn es nur so aussieht, als wäre ich da?
Oscar Brenifier (Text)
Jacques Després (Illustration)
Aus dem Französischen von Norbert Bolz
Gabriel Verlag, € 14,90, 96 Seiten
Ab 10

Jurybegründung
Ich denke, also bin ich? Die Frage nach dem Sein beschäftigt uns Menschen ebenso immer wieder wie: Was ist wirklich? Oder: Was ist wahr? Um solche zentrale philosophische Grundfragen geht es in diesem in jeder Hinsicht außergewöhnlichen Buch. Schon die digital erstellten, aber wie fotografiert wirkenden Szenen mit den comic-artigen Figuren, die jede Frage illustrieren und veranschaulichen, ergeben interessante und überraschende Momente für den Betrachter. Die innovativen Illustrationen werden durch Texte ergänzt, die  strukturiert die wichtigen Fragen der Philosophie behandeln und Antworten geben, die über die Vermittlung des in Schule und Beruf verwertbaren Wissens weit hinausgehen. Norbert Bolz hat den Text in einer gekonnten Balance von Einfachheit und Anspruch übersetzt. Der Leser erfährt viel über die Welt der Philosophie und wird zum Weiterphilosophieren angeregt: Ich denke, also bin ich!

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Wo geht’s lang?
Karten erklären die Welt
Heekyoung Kim (Text)
Krystyna Lipka-Sztarballo (Illustration)
Aus dem Koreanischen von Hans-Jürgen Zaborowski
Gerstenberg Verlag, 12,95, 48 Seiten
Ab 10

Jurybegründung
Eine fremde Stadt, ein fremdes Land, ein fremder Kontinent gar: Wie finden wir uns zurecht? Und wo geht’s lang? Hätten wir keine Landkarten, Atlanten oder Stadtpläne, müsste jeder Weg, immer wieder neu gefunden werden. Eine wunderbare Idee, dieses Thema in einem Kindersachbuch aufzugreifen! Aber nicht nur die Themenwahl überzeugt, sondern auch die ganz besondere Weise der Vermittlung kartografischen Wissens aus Vergangenheit und Gegenwart. Die asiatische Perspektive der Autorin auf die Karten der Welt allein veranschaulicht schon, wie sehr der eigene Standort die Weltkarte in unserem Kopf prägen kann – ein wichtiger Gedanke im Rahmen der Globalisierung. Denn Wo geht’s lang? zeigt nicht nur in dieser spezifischen regionalen Perspektive, wie Karten die Sicht auf die Welt und wie die Sicht auf die Welt Karten verändern können. Die Illustrationen auf hohem Niveau sind äußerst abwechslungsreich gestaltet und ergeben in ihrer Vielfalt dennoch ein harmonisches Ganzes. Das im positiven Sinn sperrige Sachbuch regt an zur Auseinandersetzung, macht das mehrmalige Anschauen lohnend und präsentiert ein zentrales Thema auf geniale Weise.

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Der Bus von Rosa Parks
Fabrizio Silei (Text)
Maurizio A.C. Quarello (Illustration)
Aus dem Italienischen von Sarah Pasquay
Verlagshaus Jacoby & Stuart, € 14,95, 40 Seiten
Ab 11

Jurybegründung
Rosa Parks erlangte Berühmtheit, weil sie im Jahr 1955 ihren Sitzplatz im Bus nicht einem anderen Fahrgast überlassen wollte. Sie war schwarz, er weiß. Diese Geschichte erzählt ein Großvater und damaliger Augenzeuge des Geschehens seinem Enkel. Es war einer jener Momente in der Geschichte, nach denen nichts mehr wie zuvor sein kann.
Der Großvater berichtet von der Atmosphäre jener Zeit der Rassentrennung und der Diskriminierung. Den Text begleiten und überbieten bisweilen die für ein Sachbuch aufregend künstlerischen Illustrationen mit meisterhaft gewählten und ausgeführten Perspektiven in film-ästhetischer Anmutung. Überzeugend ist auch die einfache, aber wirkungsvolle Idee, die Bilder der Vergangenheit in Schwarz-Grau-Weiß-Tönen darzustellen, die der Gegenwart in praller Farbigkeit. Nicht nur diese erinnert an Hoppers Bilder: Die letzte Doppelseite des Buches zeigt eine kluge Adaption eines Hopperschen Gemäldes, das die historischen Verhältnisse im wahrsten Sinne ver-rückt und dem Heute anpasst. Dieses Buch ermutigt zur Zivilcourage im alles entscheidenden Moment. Und man kann es über Jahre hinweg mit Gewinn aus wechselnden Perspektiven und unter neuen Gesichtspunkten betrachten.

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Holz
Was unsere Welt zusammenhält
Reinhard Osteroth (Text)
Moidi Kretschmann (Illustration)
Bloomsbury Kinderbücher & Jugendbücher, € 16,90, 192 Seiten
Ab 12

Jurybegründung
Auf innovative Weise folgt der Leser dem Werkstoff Holz durch die Kulturgeschichte und alle Bereiche des täglichen und weniger alltäglichen Lebens. So wird Fragen auf den Grund gegangen: Welche Hölzer eignen sich für den Bau von Musikinstrumenten? Wie wird Holz in welcher Form zum Heizstoff? Wie wird Holz beim Schiffsbau eingesetzt? Der jahrtausendealte Werkstoff wird in thematischer Breite dargestellt und sogar komplizierte ingenieurwissenschaftliche Fragestellungen werden, auf den Leser abgestimmt, beantwortet. Typografie und Papierart passen sich dem Erzählten auf vielfältige Weise an. Bildmaterial und Zeichnungen aus Gegenwart und Vergangenheit komplettieren die Darstellungen. Neben den in sich abgeschlossenen Themenkapiteln sind auch die jeweils wiederkehrenden Rubriken sehr gelungen: Die Geschichte einer Kommode und ihrer Restaurierung durchzieht das Buch wie ein roter Faden und bringt so einen persönlichen Aspekt ein. „Seitenblick“ widmet sich neben Fachbegriffen auch Kuriosa rund um das Thema Holz. Und in der Rubrik „Baum und Wald“ gefällt besonders die exemplarische Anlage, in deren Zentrum jeweils die Eiche steht. Wer glaubt, ein ganzes Buch über Holz könnte langweilig sein, wird hier eines Besseren belehrt.

NOMINIERUNGEN 2012 PREIS DER JUGENDJURY

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s. auch ausführliche Rezension Herbst 11

 

Sieben Minuten nach Mitternacht
Patrick Ness (Text)
Jim Kay (Illustration)
Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell
cbj in der Verlagsgruppe Random House, € 16,99, 216 Seiten
Ab 11

Jurybegründung
"Das Monster tauchte kurz nach Mitternacht auf. Wie das bei Monstern eben üblich ist.“
Der 13-jährige Conor O'Malley hat keine Angst vor dem Monster. Er fürchtet sich vielmehr vor dem Alptraum, den er in letzter Zeit ziemlich oft träumt... Conors Mutter ist krank. Als sie wieder ins Krankenhaus muss, soll Conor so lange bei seiner Großmutter wohnen. Doch er will nicht, dass sie ihm hilft. Er will nicht, dass ihm überhaupt jemand hilft. Auch nicht das Monster, das ihm drei Geschichten vom wahren Leben erzählt. Bis es ihn auffordert, eine eigene, vierte Geschichte zu erzählen und die Wahrheit endlich auszusprechen.
Sieben Minuten nach Mitternacht ist ein unglaublich beeindruckendes Buch. Es handelt von der Verschlossenheit und Zerbrechlichkeit eines Jungen, der einen möglichen Verlust nicht akzeptieren will. Patrick Ness erschafft mächtige sprachliche Bilder, wie das Monster, und Jim Kay liefert wundervolle Illustrationen. Dadurch entsteht eine perfekte Atmosphäre und Umgebung für diese traurige, berührende, teilweise aber auch unterhaltsame Geschichte.

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Katertag
Regina Dürig (Text)
Oder: Was sagt der Knopf bei Nacht?
Chicken House im Carlsen Verlag, € 9,95, 112 Seiten
Ab 14
 
Jurybegründung
„Es ist schwierig, beim Schreiben ruhig zu bleiben und sich nicht wieder so leer zu fühlen wie vor einem Jahr. Vielleicht war es doch keine gute Idee, das alles aufzuschreiben. Aber jetzt gibt es kein zurück mehr.“ Stell dir vor, du kommst nach Hause und am Küchentisch wartet dein Vater. Seine Fahne ist schon von weitem zu riechen und er wird mit jedem Tropfen Alkohol, den er zu sich nimmt, immer mehr zu einer fremden Person. Nicolas lebt glücklich mit seinen Eltern und seiner jüngeren Schwester, bis sein Vater das Trinken anfängt. Die Familie beginnt, an den Lügen des Vaters zu zerbrechen. Als alles schon verloren scheint, schreibt Nicolas wütend und enttäuscht einen Brief an seinen Vater. Dabei versucht er nichts auszulassen, auch wenn es ihn sehr schmerzt, sich an die Tiefpunkte der Vergangenheit erinnern zu müssen. Katertag. Oder: Was sagt der Knopf bei Nacht ist ein ergreifendes und anrührendes Buch, das sich den Problemen des Alkoholismus stellt.

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Kopfschuss
Susan Vaught (Text)
Ann Lecker-Chewiwi (Übersetzung)
Aus dem Englischen von Ann Lecker-Chewiwi
cbt in der Verlagsgruppe Random House, € 8,99, 384 Seiten
Ab 14

Jurybegründung
Stell dir vor, du erwachst und dir fehlt ein Jahr deines Lebens.
Deine Eltern verhalten sich seltsam. Warum?
Dein bester Freund hasst dich. Warum?
Du hast abgedrückt. Warum?
Niemand will dir Antwort geben. Einzig die Schwester deines besten Freundes und ihre Großmutter behandeln dich normal, reden mit dir und zwingen dich damit, über deine Entscheidung nachzudenken.
Man beginnt zu lesen und ist verwirrt. Aber das ist okay, denn der Protagonist ist es auch. Von Anfang an sieht man die Welt durch Jerseys Augen und gemeinsam fügt man die Scherben des vergangenen Jahres zusammen. Denn Jersey sucht nach den Gründen für seinen Selbstmordversuch, um zu entscheiden, ob er weiterleben oder endgültig gehen möchte.
Das Buch lebt nicht nur von den Dialogen, sondern auch von den wirren Gedankengängen des Protagonisten. Egal ob „Gummischnürsenkel“, „Froschfürze“ oder „Cheerleader“, Jersey muss zwanghaft alles aussprechen. Die Autorin beschreibt die Situation nach einem Selbstmordversuch realistisch, fesselnd und emotional. Dabei stellt sie die Tiefe der Charaktere authentisch dar. Das Buch greift das gesellschaftliche Tabuthema Selbstmord bei Jugendlichen überzeugend, mitreißend und vor allem humorvoll auf. Trotz des ernsten Themas wirkt der Text nie belehrend, sondern zaubert, durch die gelungene sprachliche Umsetzung meist ein Lächeln auf das Gesicht des Lesers.

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Der Märchenerzähler
Antonia Michaelis (Text)
Verlag Friedrich Oetinger, € 16,95, 448 Seiten
Ab 15

Jurybegründung
Nicht zu jeder Frage gibt es eine Antwort und nicht hinter jedem Märchen steckt nur Phantasie. Nichts ist wie es scheint und nichts ist sicher. Die Welt ist nicht schwarz und weiß und niemand ist nur gut oder böse. Das sind Dinge, die Anna Lehmann lernen muss, als sie Abel Tannatek kennen lernt. Nach außen hin gibt dieser den unnahbaren, verschlossenen Jungen – doch was passiert daheim, in der trostlosen Wohnung, wo er seiner kleinen Schwester ein Märchen erzählt, von dem viel zu viel der traurigen Wahrheit entspricht? Als Personen umkommen, die Abel und seiner Schwester im Weg stehen, ist Anna verunsichert: Hat der polnische Kurzwarenhändler, wie Abel in der Schule genannt wird, etwas mit den Morden zu tun?
Das Buch überzeugt vor allem durch seine außergewöhnliche, schon fast poetische Sprache und seine ungewöhnliche Erzählweise, in der sich die Grenzen von Realität und Fiktion verschieben.

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Forbidden
Tabitha Suzuma (Text)
Bernadette Ott (Übersetzung)
Wie kann sich etwas so Falsches so richtig anfühlen?
Aus dem Englischen von Bernadette Ott
Verlag Friedrich Oetinger, € 17,95, 448 Seiten
Ab 15

Jurybegründung
„Forbidden“, verboten, abartig und schlecht: Inzest ist in der Gesellschaft eines der letzten Tabuthemen, das krampfhaft totgeschwiegen wird.
Tabitha Suzuma tut genau das Gegenteil: Sie zeigt die Zwiespältigkeit der Gefühlswelt eines Geschwisterpaares auf, das sich ineinander verliebt. Das schafft sie, ohne dem Leser irgendeine Meinung aufzuzwingen; sie lässt ihn jegliche Vorurteile vergessen.
Maya und Lochan sind Protagonisten, die dem Leser auch noch lange nach dem Schließen des Buchdeckels durch den Kopf gehen und ihn nicht mehr loslassen mit ihrer vorsichtigen, zärtlichen Annäherung, dem Erschrecken vor den eigenen Gefühlen und ihrer Hilflosigkeit.
Forbidden ist eine der schönsten Liebesgeschichten der letzten Jahre – nicht zuletzt durch den großartig einfühlsamen Schreibstil von Tabitha Suzuma, den Bernadette Ott toll übersetzt hat. Durch die Verflechtung zweier Erzählperspektiven entsteht ein Netz, aus dem sich der Leser nur schwerlich befreien kann – faszinierend wunderbar!

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Als gäbe es einen Himmel
Els Beerten (Text)
Aus dem Niederländischen von Mirjam Pressler
FJB im S. Fischer Verlag, € 19,95, 624 Seiten
Ab 16

Jurybegründung

Die belgische Sicht auf den zweiten Weltkrieg: Die Deutschen halten das Land besetzt, verbreiten Angst und Schrecken, doch nicht alle schalten auf Gegenwehr und Widerstand. Aufgehetzt durch ihren Lehrer wollen sich die Jugendlichen Jef und Ward der flämischen Spezialarmee anschließen und am Russlandfeldzug teilnehmen. Jef wird von seinem Vater zurückgehalten. Der charismatische Ward aber zieht in den Krieg und verkörpert damit den gern verschwiegenen Typus des Kollaborateurs. Schauplatz ist ein kleines Dorf und der Konflikt vollzieht sich zwischen den Jugendlichen Ward, Jef, Remi und Renée. Freundschaft, Liebe und Verrat sind die bewegenden Zutaten. Die Sprache ist poetisch und der Erzählfluss so komplex wie die Kriegswirren und die Zerrissenheit der jugendlichen Akteure selbst. Ein Kriegsroman aus ganz anderer und für den deutschen Leser ungewohnter Perspektive. Dargeboten in einem eigenwilligen, fast kargen Stil. Ein bewegendes Stück Literatur, das über die erzählte Zeit hinaus eine Botschaft vermittelt und damit bei Weitem mehr als „nur“ einen historischen Kriegsroman darstellt. Wie Krieg und Demagogie Freundschaften zerstören können, ist ein Lehrstück von berührender Gegenwärtigkeit.

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